Der Imperativ von geben, nehmen, lesen – so bildet man ihn

Veröffentlicht am 11. Juli 2021
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Verfasst von Annegret Scholz

Neben der hier bereits besprochenen falschen Schreibung von Herzlich willkommen und der falschen Schreibung von E-Mail gibt es einen weiteren häufigen Fehler, der mir früher eigentlich gar nicht untergekommen ist, sich seit einiger Zeit aber wie ein Lauffeuer verbreitet: die falsche bzw. unvollständige Bildung des Imperativs.

Nehme dir Zeit, Lese diesen Text, Gebe mir Bescheid – solche Formulierungen sehe ich im Internet, aber auch in gedruckten Texten immer häufiger. Mir stellen sich dabei ehrlich gesagt die Nackenhaare auf, mein Sprachgefühl schlägt laut Alarm, aber offensichtlich geht es immer weniger Menschen so. Sonst würde sich die Verwendung des nur halb gebildeten Imperativs nicht so stark verbreiten.

Aber von Anfang an …

Was ist der Imperativ überhaupt?

Der Imperativ ist die Befehlsform. Man braucht ihn immer dann, wenn man sein Gegenüber zu etwas auffordert oder um etwas bittet: Geh nach Hause!, Steh nicht rum!, Hör mir zu!.

Natürlich gibt es den Imperativ auch im Plural: Geht nach Hause!, Steht nicht rum!, Hört mir zu! und auch in der Höflichkeitsform: Gehen Sie nach Hause, Stehen Sie nicht rum!, Hören Sie mir zu!.

Bei der Pluralbildung und in der Höflichkeitsform gibt es kaum Probleme mit dem Imperativ, diese treten so massiv eigentlich nur im Singular auf, darum beschränke ich mich hier auf diese Form.

Wie bildet man den Imperativ?

Imperativbildung – Schritt 1

Eigentlich ist die Bildung des Imperativs ganz einfach: Man nimmt den Infinitiv, also die Grundform eines Verbs, z. B. gehen. Man leitet daraus den Präsensstamm ab, indem man die Endung –en weglässt: geh. Und in den allermeisten Fällen hat man jetzt schon die Imperativform im Singular. In vielen Fällen kann, in wenigen Fällen muss man noch ein e anhängen, doch dazu später mehr.

Die Bildung des Imperativs wäre also wirklich simpel, wenn es im Deutschen nicht diese verflixten starken Verben mit Vokalwechsel gäbe. Was bei gehen, stehen und hören in einem Schritt geht, braucht bei nehmen, lesen und geben nämlich noch einen zweiten Schritt.

Imperativbildung – Schritt 2

Bei den starken Verben mit e muss nach der Bildung des Präsensstamms noch ein Vokalwechsel vollzogen werden: Aus nehm wird nimm aus les wird lies und aus geb wird gib. Und genau diesen Schritt lassen immer mehr Menschen einfach weg und verwenden somit bei den starken Verben mit e einen nur halb fertigen Imperativ.

Bei den starken Verben mit a gibt es im Imperativ übrigens keinen Vokalwechsel: Aus lassen wird lass, aus schlafen wird schlaf, aus waschen wird wasch. Hier ist man also auch nach dem ersten Schritt schon fertig mit der Bildung des Imperativs.

Wie kann ich prüfen, ob Schritt 2 notwendig ist?

Um herauszufinden, ob man nach der Bildung des Wortstamms schon einen fertigen Imperativ hat, schaut man sich ganz einfach den Indikativ, also die „normale“ Form des Verbs, in der 2. Person Singular an. Wenn es da keinen Wechsel von e zu i gibt, gibt es auch keinen im Imperativ:

gehen: Du gehst nach HauseGeh nach Hause ist richtig.
stehen: Du stehst rumSteh nicht rum ist richtig.
nehmen: Du nimmst dir Zeit → Aus Nehme dir Zeit muss Nimm dir Zeit werden.
lesen: Du liest einen Text → Aus Lese diesen Text muss Lies diesen Text werden.
geben: Du gibst mir → Aus Gebe mir Bescheid muss Gib mir Bescheid werden.

Und wie war das mit dem angehängten e beim Imperativ?

Bei den meisten Imperativformen im Singular kann man am Ende ein e anhängen, wenn man möchte, darf es aber ebenso gut weglassen. Das ist dann einfach eine Frage des Geschmacks und vor allem des Stils eines Textes: Geh nach Hause ist ebenso korrekt wie Gehe nach Hause, die zweite Form klingt aber deutlich gehobener. In der Alltagssprache findet man daher fast ausschließlich die Formen ohne e.

In bestimmten Fällen ist das angehängte e aber verbindlich

Bei Verben, deren Präsensstamm auf einen Konsonanten plus m/n endet, muss man im Imperativ ein e anhängen. Besonders merken muss man sich das aber eigentlich nicht – ohne das e kann man diese Wörter nämlich kaum aussprechen und hängt daher fast automatisch ein e an:

atmen – atm – Atme tief durch!
rechnen – rechn – Rechne mit allem!

Auch bei Verben, deren Präsensstamm auf -d/-t endet, muss das e angehängt werden:

beenden – beend – Beende das!
arbeiten – arbeit – Arbeite nicht so viel!

Bei Verben, die auf -eln und -ern enden, muss im Imperativ ebenfalls ein e angehängt werden. Dass bei diesen Verben alles ein wenig anders funktioniert, merkt man schon, wenn man den Wortstamm bilden möchte. Dabei kann man nämlich kein -en am Ende weglassen, weil das Verb nicht auf -en endet. Man lässt hier nur das n weg, die komplette Imperativbildung sieht damit so aus:

trommelntrommel – Trommele nicht so laut!
wandernwanderWandere nicht abseits der Wege!

Das e im Wortstamm kann man bei diesen Verben übrigens weglassen, trommle oder wandre ist also ebenfalls korrekt.

Ich hoffe, nun sind alle Unsicherheiten zur Bildung des Imperativs im Singular beseitigt. Falls es noch Fragen gibt, beantworte ich diese gerne in den Kommentaren. Und natürlich freue ich mich auch über anderes Feedback zu diesem Beitrag.

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8 Kommentare

  1. Danke! Das mit dem Prüfschritt 2. Person Singular ist ein super Tip!
    Mit anderen Worten: Ich überlege mir, was mein Ziel ist, z. B. “du gibst mir das Buch”, sage dann also “Gib mir das Buch!”.

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  2. Super! Nicht nur witzig, sondern extrem nützlich. Danke 🙂

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  3. Danke für den wunderbaren Artikel. Das mit dem Imperativ ist mir auch immer öfter aufgefallen und ich habe schon angefangen, an meiner Kenntnis der Grammatik zu zweifeln, weil es immer häufiger vorkommt.

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  4. Eine wahre Epidemie der Fehler ist auf dem Vormarsch in Deutschland. “E-Imperative”, “Weil-Hauptsätze”… Sie sind keine Veränderung der Sprache, wenn sie gleichzeitig die Fülle der unterscheidbaren Ausdrucksmöglichkeiten reduzieren. Nein, dann ist es Verarmung. Vielen Dank für diesen Artikel. Ich hoffe mehr Leute nehmen sich das zu Herzen. (So nehmet es euch denn zu Herzen, liebe Leute!)

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  5. Könnten Sie auch mal einen Artikel schreiben zu “Das mach Sinn”. Das macht nämlich m.E. keinen Sinn. Es kann nur Sinn ergeben, aber das “Das mach Sinn” hat sich schon so in der Sprache festgesetzt, dass ich fast fürchte, es ist zu spät.

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  6. Kleine Frage zum Imperativ zu “Schritt 2”: Beispiel “lesen”: warum kann man da nicht einfach auf ein -e anhängen im Singular? Gibt’s da eine festgesetzte Regel?
    lesen -> du liest – lies ! ok aber ich habe den ausländischen Freunden nicht erklären können, warum man nicht auch “liese” sagen kann. (und das kann man ja nicht). Heißt die Regel in diesem Fall ‘das ist so”?
    Vielen Dank.

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    • Warum sich das sprachlich so entwickelt hat, kann ich leider nicht beantworten. Aber als Faustregel können Sie sich merken bzw. den ausländischen Freunden sagen, dass das -e nie angehängt werden kann, wenn ein Vokalwechsel stattgefunden hat. Der Vokalwechsel „ersetzt“ sozusagen das angehängte -e.

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  7. Auch mir stellen sich die Nackenhaare auf, auf den Webseiten vieler bekannter und großer Firmen findet man ” Lese dies..” “Trete der..bei”, usw.., furchtbar. Gibt es denn niemanden, der diese Firmen darauf aufmerksam macht?!

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